Vorspann der Redaktion
"In einer tiefen
Krise": "Die wirtschaftspolitische Debatte in
Deutschland wird verstärkt von Vorstellungen geprägt,
die einen erschreckenden Mangel an ökonomischem Sachverstand
erkennen lassen. Dies ist umso besorgniserregender, als
Deutschland sich in einer tiefen, strukturellen Krise befindet,
die drastische und schmerzhafte Reformen verlangt."
So
beginnt der von gut 240 deutschen Wirtschaftsprofessoren
unterzeichnete "Hamburger Appell" *, eine Ansammlung
neoliberaler Diagnosen und Rezepte. Arbeitskosten als Problem: Die
Vorstellung, eine höhere Binnennachfrage könne die
Wachstumsschwäche beseitigen helfen, wird als "falsch
und gefährlich" bezeichnet.
Das Problem seien
die Arbeitskosten. Wer behaupte, Deutschland könne und müsse
ein Hochlohnland bleiben, handele "unredlich oder ignorant".
Der Appell plädiert für "äußerste
Lohnzurückhaltung" und glaubt, "dass eine
Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch niedrigere Entlohnung
der ohnehin schon Geringverdienenden" möglich sei.
Forderung nach Einschnitten: Darüber hinaus sprechen
sich die Unterzeichner für eine "streng
stabilitätsorientierte" Finanzpolitik aus. Die
Konsolidierung der Staatsfinanzen erfordere "weitreichende
Einschnitte" bei allen öffentlichen Ausgaben, auch der
für die sozialen Sicherungssysteme.
Wer Gegenteiliges
behaupte, führe "in populistischer Weise die Bürger
in die Irre." Das Argument, in einer Stagnation dürfe
man sich nicht kaputtsparen, sei "bequem, aber falsch".
Kritik am Aufruf: Der "Hamburger Appell" bringt
nicht nur SPD-Fraktionsvize Joachim Poß auf die Palme - der
Politiker spricht von einer "skandalösen Wahlkampfhilfe"
für CDU/CSU und FDP und wirft den Ökonomen Ideologie und
Unwissenschaftlichkeit vor.
Auch in der eigenen Zunft gibt
es Widerspruch. So distanziert sich der Münchner
Wirtschaftsprofessor Ekkehart Schlicht mit dem Hinweis von dem
Aufruf, er halte die Analyse für teilweise falsch und
teilweise sehr kontrovers.
Er sieht sich in seiner
Meinung, "dass es sich bei unseren Arbeitsmarktproblemen
zentral weder um Strukturprobleme noch um Probleme der
institutionellen Verkrustung oder unzureichender Leistungsanreize
handelt, durch die Erfahrung der letzten drei Jahrzehnte
dramatisch bestätigt".
Den "absolutistischen
Tonfall" des Appells empfindet er als unangemessen. Im
nebenstehenden Beitrag erläutert er einige seiner
Kritikpunkte.
Mrm
Gastkommentar
"Es ist leichtsinnig, Konjunkturpolitik
von vornherein auszuschließen"
Der Wirtschaftswissenschaftler Ekkehart Schlicht über
die Folgen der schwachen Nachfrage und die Vorteile niedrigerer
Steuern - eine kritische Reaktion auf den "Hamburger Appell".
"Wo jeder soviel spart und entbehrt als er nur kann,
da ist kein Reiz zur Produktion."
Friedrich List (1789-1846)
1. Die schwache Nachfrage bremst
Die Arbeitslosigkeit in Deutschland hat ihre Ursache in der
mangelnden Binnennachfrage. Im allgemeinen können zu geringe
Produktion und die damit verbundene Arbeitslosigkeit mehrere Ursachen
haben: Unzureichende Kapazitäten, die eine Ausweitung der
Produktion und Beschäftigung beschränken, oder zu hohe
Kosten, die eine Erhöhung von Produktion und Beschäftigung
unrentabel machen. Oder schließlich mangelnde Nachfrage, sodass
sich eine höhere Produktion nicht absetzen lässt.
Die Produktion in Deutschland ist schon seit einigen Jahren
nachfragebeschränkt. Wenn man Unternehmer oder leitende
Angestellte fragt: "Würde Ihre Unternehmung bei den
jetzigen Löhnen und den derzeitigen Preisen mehr Arbeitskräfte
einstellen, wenn die Nachfrage nach Ihren Produkten größer
wäre?", wird diese Frage fast immer bejaht.
Zu hohe Kosten und zu hohe Löhne sind gegenwärtig nicht
die Ursache für die niedrige Produktion und Beschäftigung.
Die These, die Arbeitskosten seien ein "Schlüssel zur
Überwindung der deutschen Wachstumsschwäche", wäre
theoretisch unter anderen Umständen vertretbar, nicht aber in
der Lage, in der wir uns befinden.
2. Steuerentlastungen schaffen Jobs
Die These, daß Maßnahmen zur Steigerung der
Gesamtnachfrage in Strukturverzerrungen verpuffen, beruht auf
theoretischen Überlegungen, die von Vollbeschäftigung
ausgehen. Dies hat ausschließlich theoretisch-methodische
Gründe und keine empirische Basis. Die Schlüsse, die man in
diesem Rahmen ziehen kann, sind in einer Wirtschaftslage mit hoher
unfreiwilliger Arbeitslosigkeit wie der unsrigen nicht relevant.
Ebensowenig trifft gegenwärtig die Meinung zu, jede
zusätzliche Ersparnis schaffe gerade die entsprechende
Nachfrage. Wenn jeder Deutsche mehr sparen und seine Konsumausgaben
um zehn Prozent einschränken würde, würde die
Produktion zurückgehen, die Arbeitslosigkeit steigen und die
Investition fallen, denn die Überkapazitäten wären
dann noch größer.
Es spricht alles dafür, dass kräftige Steuersenkungen
besonders für die Geringverdiener die Gesamtnachfrage steigern.
Dabei darf der Staat seine Ausgaben im Zuge der Steuerentlastungen
nicht einschränken. Auf Grund der höheren Nachfrage würden
die Unternehmungen mehr produzieren und die Beschäftigung würde
steigen.
Diese Nachfragepolitik findet ihre Grenze bei Vollauslastung der
Produktionskapazitäten der Unternehmungen, wobei immer noch hohe
Arbeitslosigkeit herrschen kann. Aber erst in dieser Situation können
die Unternehmungen ein Interesse daran haben, ihre Kapazitäten
zu erweitern und so eine weitere Zunahme der Beschäftigung zu
ermöglichen.
Investitionen erfolgen erst, wenn zum einen ein Bedarf vorhanden
und zum anderen die Rentabilität gesichert ist. Eins alleine
reicht nicht.
3. Sture Maastricht-Regeln ersetzen
Die Steuersenkungen zur Belebung von Produktion und Beschäftigung
müssen durch zusätzliche Staatsschulden finanziert werden.
Eine höhere Staatsverschuldung führt nicht, wie oft
behauptet, zu einer Belastung künftiger Generationen. Steht für
die Staatsausgaben ein bestimmter Bruchteil des Volkseinkommens zur
Verfügung und werden die Steuern so angepasst, dass stets
Vollbeschäftigung herrscht, so werden sich Staatsverschuldung
und Besteuerung auf einem bestimmten Niveau langfristig
stabilisieren. Eine andere als diese gleichgewichtige Verschuldung
und die entsprechende Besteuerung anzustreben, führt zu
makroökonomischer Instabilität.
Natürlich schreckt man als Laie vor der Vorstellung eines
ständig verschuldeten Staatshaushalts zurück, doch hier
gilt, was der Nationalökonom Friedrich List schon 1841 bemerkt
hat: "In der Nationalökonomie kann Weisheit sein, was in
der Privatökonomie Torheit wäre, und umgekehrt."
Staatschulden haben unter den derzeitigen Bedingungen eine wichtige
stabilisierende und beschäftigungssichernde Funktion.
Eine weitere Erhöhung der Staatsverschuldung zur Finanzierung
einer Steuersenkung wird die Maastricht-Kriterien verletzen. Die
Kriterien beruhen auf der unrealistischen Annahme, daß
staatliche Konjunkturpolitik entbehrlich ist, weil sich
Vollbeschäftigung ohne politisches Zutun spontan einstellt. Dies
ist wiederum eine Annahme, aber kein Ergebnis gängiger
makroökonomischer Theorien: ein durchaus denkbarer Fall, aber
unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht relevant.
Der Staat muss die Probleme lösen, die im Markt nicht gelöst
werden, sei es durch direkte Einflußnahme über Steuern und
Ausgaben, sei es durch Änderungen der Spielregeln. Es ist aber
auf jeden Fall leichtsinnig, Konjunkturpolitik von vornherein
auszuschließen. Die jetzigen "sturen"
Maastricht-Regeln müssen durch "intelligente" Regeln
ersetzt werden, die eine Konjunkturpolitik auf europäischer
Ebene ermöglichen.
Diese Regeln müssen natürlich weiterhin sicherstellen,
daß ein Land sich nicht zu Lasten des anderen verschuldet. Dies
ist aber gegenwärtig kein Problem. Die Länder, die gegen
Maastricht verstoßen, stützen damit Nachfrage und
Beschäftigung auch in den anderen Ländern - und sollen auch
noch Strafe zahlen.
Bei jeder zukünftigen Expansion - gleichgültig ob durch
Steuersenkungen, wachsende Auslandsnachfrage oder zusätzliche
Investitionsnachfrage hervorgerufen - müssen wir mit
aufkommenden Inflationsproblemen rechnen. Um dieser Gefahr zu
begegnen, müssen wir schon jetzt andere und bessere Wege zur
Preisstabilisierung ins Auge fassen als das konventionelle und völlig
unökonomische Mittel zunehmender Arbeitslosigkeit.
Letztlich ist die effektive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
weniger eine Frage von Verzicht und Leistungsbereitschaft. Vielmehr
ist ein Umdenken in Wissenschaft und Politik erforderlich.
von Ekkehart Schlicht
Quelle: Frankfurter Rundschau vom 31.08.05
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