"Es ist leichtsinnig, Konjunkturpolitik von vornherein auszuschließen"

Gastkommentar von Ekkehart Schlicht in der Frankfurter Rundschau vom 31.8.2005
 

 

Vorspann der Redaktion
Gastkommentar
Hamburger Appell
Unterzeichner
Distanzierung vom Hamburger Appell

 

 

 

Vorspann der Redaktion

"In einer tiefen Krise": "Die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland wird verstärkt von Vorstellungen geprägt, die einen erschreckenden Mangel an ökonomischem Sachverstand erkennen lassen. Dies ist umso besorgniserregender, als Deutschland sich in einer tiefen, strukturellen Krise befindet, die drastische und schmerzhafte Reformen verlangt."

So beginnt der von gut 240 deutschen Wirtschaftsprofessoren unterzeichnete "Hamburger Appell" *, eine Ansammlung neoliberaler Diagnosen und Rezepte. Arbeitskosten als Problem: Die Vorstellung, eine höhere Binnennachfrage könne die Wachstumsschwäche beseitigen helfen, wird als "falsch und gefährlich" bezeichnet.

Das Problem seien die Arbeitskosten. Wer behaupte, Deutschland könne und müsse ein Hochlohnland bleiben, handele "unredlich oder ignorant". Der Appell plädiert für "äußerste Lohnzurückhaltung" und glaubt, "dass eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch niedrigere Entlohnung der ohnehin schon Geringverdienenden" möglich sei.

Forderung nach Einschnitten: Darüber hinaus sprechen sich die Unterzeichner für eine "streng stabilitätsorientierte" Finanzpolitik aus. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen erfordere "weitreichende Einschnitte" bei allen öffentlichen Ausgaben, auch der für die sozialen Sicherungssysteme.

Wer Gegenteiliges behaupte, führe "in populistischer Weise die Bürger in die Irre." Das Argument, in einer Stagnation dürfe man sich nicht kaputtsparen, sei "bequem, aber falsch".

Kritik am Aufruf: Der "Hamburger Appell" bringt nicht nur SPD-Fraktionsvize Joachim Poß auf die Palme - der Politiker spricht von einer "skandalösen Wahlkampfhilfe" für CDU/CSU und FDP und wirft den Ökonomen Ideologie und Unwissenschaftlichkeit vor.

Auch in der eigenen Zunft gibt es Widerspruch. So distanziert sich der Münchner Wirtschaftsprofessor Ekkehart Schlicht mit dem Hinweis von dem Aufruf, er halte die Analyse für teilweise falsch und teilweise sehr kontrovers.

Er sieht sich in seiner Meinung, "dass es sich bei unseren Arbeitsmarktproblemen zentral weder um Strukturprobleme noch um Probleme der institutionellen Verkrustung oder unzureichender Leistungsanreize handelt, durch die Erfahrung der letzten drei Jahrzehnte dramatisch bestätigt".

Den "absolutistischen Tonfall" des Appells empfindet er als unangemessen. Im nebenstehenden Beitrag erläutert er einige seiner Kritikpunkte.

Mrm

 

Gastkommentar

"Es ist leichtsinnig, Konjunkturpolitik von vornherein auszuschließen"

 

Der Wirtschaftswissenschaftler Ekkehart Schlicht über die Folgen der schwachen Nachfrage und die Vorteile niedrigerer Steuern - eine kritische Reaktion auf den "Hamburger Appell".

"Wo jeder soviel spart und entbehrt als er nur kann, da ist kein Reiz zur Produktion."

 

Friedrich List (1789-1846)

 

1. Die schwache Nachfrage bremst

 

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland hat ihre Ursache in der mangelnden Binnennachfrage. Im allgemeinen können zu geringe Produktion und die damit verbundene Arbeitslosigkeit mehrere Ursachen haben: Unzureichende Kapazitäten, die eine Ausweitung der Produktion und Beschäftigung beschränken, oder zu hohe Kosten, die eine Erhöhung von Produktion und Beschäftigung unrentabel machen. Oder schließlich mangelnde Nachfrage, sodass sich eine höhere Produktion nicht absetzen lässt.

Die Produktion in Deutschland ist schon seit einigen Jahren nachfragebeschränkt. Wenn man Unternehmer oder leitende Angestellte fragt: "Würde Ihre Unternehmung bei den jetzigen Löhnen und den derzeitigen Preisen mehr Arbeitskräfte einstellen, wenn die Nachfrage nach Ihren Produkten größer wäre?", wird diese Frage fast immer bejaht.

 

Zu hohe Kosten und zu hohe Löhne sind gegenwärtig nicht die Ursache für die niedrige Produktion und Beschäftigung. Die These, die Arbeitskosten seien ein "Schlüssel zur Überwindung der deutschen Wachstumsschwäche", wäre theoretisch unter anderen Umständen vertretbar, nicht aber in der Lage, in der wir uns befinden.

 

2. Steuerentlastungen schaffen Jobs

 

Die These, daß Maßnahmen zur Steigerung der Gesamtnachfrage in Strukturverzerrungen verpuffen, beruht auf theoretischen Überlegungen, die von Vollbeschäftigung ausgehen. Dies hat ausschließlich theoretisch-methodische Gründe und keine empirische Basis. Die Schlüsse, die man in diesem Rahmen ziehen kann, sind in einer Wirtschaftslage mit hoher unfreiwilliger Arbeitslosigkeit wie der unsrigen nicht relevant.

 

Ebensowenig trifft gegenwärtig die Meinung zu, jede zusätzliche Ersparnis schaffe gerade die entsprechende Nachfrage. Wenn jeder Deutsche mehr sparen und seine Konsumausgaben um zehn Prozent einschränken würde, würde die Produktion zurückgehen, die Arbeitslosigkeit steigen und die Investition fallen, denn die Überkapazitäten wären dann noch größer.

 

Es spricht alles dafür, dass kräftige Steuersenkungen besonders für die Geringverdiener die Gesamtnachfrage steigern. Dabei darf der Staat seine Ausgaben im Zuge der Steuerentlastungen nicht einschränken. Auf Grund der höheren Nachfrage würden die Unternehmungen mehr produzieren und die Beschäftigung würde steigen.

 

Diese Nachfragepolitik findet ihre Grenze bei Vollauslastung der Produktionskapazitäten der Unternehmungen, wobei immer noch hohe Arbeitslosigkeit herrschen kann. Aber erst in dieser Situation können die Unternehmungen ein Interesse daran haben, ihre Kapazitäten zu erweitern und so eine weitere Zunahme der Beschäftigung zu ermöglichen.

 

Investitionen erfolgen erst, wenn zum einen ein Bedarf vorhanden und zum anderen die Rentabilität gesichert ist. Eins alleine reicht nicht.

 

3. Sture Maastricht-Regeln ersetzen

 

Die Steuersenkungen zur Belebung von Produktion und Beschäftigung müssen durch zusätzliche Staatsschulden finanziert werden. Eine höhere Staatsverschuldung führt nicht, wie oft behauptet, zu einer Belastung künftiger Generationen. Steht für die Staatsausgaben ein bestimmter Bruchteil des Volkseinkommens zur Verfügung und werden die Steuern so angepasst, dass stets Vollbeschäftigung herrscht, so werden sich Staatsverschuldung und Besteuerung auf einem bestimmten Niveau langfristig stabilisieren. Eine andere als diese gleichgewichtige Verschuldung und die entsprechende Besteuerung anzustreben, führt zu makroökonomischer Instabilität.

 

Natürlich schreckt man als Laie vor der Vorstellung eines ständig verschuldeten Staatshaushalts zurück, doch hier gilt, was der Nationalökonom Friedrich List schon 1841 bemerkt hat: "In der Nationalökonomie kann Weisheit sein, was in der Privatökonomie Torheit wäre, und umgekehrt." Staatschulden haben unter den derzeitigen Bedingungen eine wichtige stabilisierende und beschäftigungssichernde Funktion.

 

Eine weitere Erhöhung der Staatsverschuldung zur Finanzierung einer Steuersenkung wird die Maastricht-Kriterien verletzen. Die Kriterien beruhen auf der unrealistischen Annahme, daß staatliche Konjunkturpolitik entbehrlich ist, weil sich Vollbeschäftigung ohne politisches Zutun spontan einstellt. Dies ist wiederum eine Annahme, aber kein Ergebnis gängiger makroökonomischer Theorien: ein durchaus denkbarer Fall, aber unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht relevant.

 

Der Staat muss die Probleme lösen, die im Markt nicht gelöst werden, sei es durch direkte Einflußnahme über Steuern und Ausgaben, sei es durch Änderungen der Spielregeln. Es ist aber auf jeden Fall leichtsinnig, Konjunkturpolitik von vornherein auszuschließen. Die jetzigen "sturen" Maastricht-Regeln müssen durch "intelligente" Regeln ersetzt werden, die eine Konjunkturpolitik auf europäischer Ebene ermöglichen.

 

Diese Regeln müssen natürlich weiterhin sicherstellen, daß ein Land sich nicht zu Lasten des anderen verschuldet. Dies ist aber gegenwärtig kein Problem. Die Länder, die gegen Maastricht verstoßen, stützen damit Nachfrage und Beschäftigung auch in den anderen Ländern - und sollen auch noch Strafe zahlen.

 

Bei jeder zukünftigen Expansion - gleichgültig ob durch Steuersenkungen, wachsende Auslandsnachfrage oder zusätzliche Investitionsnachfrage hervorgerufen - müssen wir mit aufkommenden Inflationsproblemen rechnen. Um dieser Gefahr zu begegnen, müssen wir schon jetzt andere und bessere Wege zur Preisstabilisierung ins Auge fassen als das konventionelle und völlig unökonomische Mittel zunehmender Arbeitslosigkeit.

 

Letztlich ist die effektive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit weniger eine Frage von Verzicht und Leistungsbereitschaft. Vielmehr ist ein Umdenken in Wissenschaft und Politik erforderlich.

von Ekkehart Schlicht

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 31.08.05